Montag, 26. September 2011

Ist unsere Zeit wirklich schnelllebig?

In dieser Frage scheinen sich alle einig zu sein: Unsere  Zeit, so sagt man, werde immer schnelllebiger und hektischer, an die Menschen werden im Job immer höhere Anforderungen gestellt, und auf die "Zu-Spät-Gekommenen" oder schlicht zu Langsamen werde keine Rücksicht mehr genommen. Der Grund dafür liege vor allem in der rasanten Entwicklung der Technik und Wissenschaft. So manche Normalbürger könnten damit einfach nicht mehr Schritt halten, schafften die anspruchsvolleren Ausbildungen nicht und hätten daher weniger Chancen, einen guten Job zu finden. Leute, die noch vor 15 Jahren z. B. zur Mittelschicht gehörten, rutschen ab in der gesellschaftlichen Rangordnung, werden zu Hartz IV-Empfängern oder gar krank, weil sie das Ausgeschlossensein nicht verkraften können.
Keine Frage: Das ist alles durchaus richtig. Und es gehört zu den ernsthaftesten Problemen unserer Zeit. Aber es gibt auch genau das gegenteilige Phänomen. Nur ein Beispiel: Wer hat sich noch nicht über trödelnde Fußgänger in der Stadt geärgert? Also Leute, die immer und überall im Weg herumstehen, geradezu aufreizend langsam laufen, als hätten sie den ganzen Tag nichts zu tun bzw. alle Zeit der Welt. Und das sind keineswegs nur ein paar wenige, von denen man vielleicht annehmen könnte, dass sie zu der oben genannten Gruppe der weniger qualifizierten Bürger oder der Arbeitslosen gehören. Es scheint also ganz verschiedene Erlebniswelten in der westlichen Welt zu geben: Leute, die sich ständig gehetzt fühlen - u.a. weil sie einen anstrengenden Fulltime-Job haben und womöglich daneben noch eine Familie versorgen müssen, oder weil sie als alleinerziehende und berufstätige Mütter sowieso ständig im Stress sind.
Aber es gibt eben auch die anderen, die ihr Leben so gemächlich gestalten, dass man meinen könnte, die letzten fünfzig Jahre seien spurlos an ihnen vorbeigegangen. Entweder weil sie es sich finanziell leisten können (durch eine Erbschaft oder einen gutsituierten Partner) oder weil sie einfach zu der "langsamen Truppe" gehören. Dazu gehören allerdings auch Angestellte bei Behörden und Firmen, von denen man doch annimmt, dass sie - den gestiegenen Anforderungen entsprechend - besser und effektiver arbeiten als früher! Dem ist jedoch nicht so. Jeder von uns hat es schon erlebt: Wenn man bei einer Behörde oder Firma anruft, findet man sich erst mal in einer Warteschleife wieder, unter Umständen sogar eine halbe Stunde lang. Wird man dann endlich bedient, dann erklärt sich der Angestellte plötzlich für nicht zuständig oder hat schlicht keine Ahnung. Oder man beschwert sich per E-Mail bei einer Firma und erhält erst nach drei Wochen eine Antwort. Ganz zu schweigen von Verkäuferinnen in Kaufhäusern oder einschlägigen Modeketten, die fast durchweg selbst harmlose Fragen nicht beantworten können. Okay, das kann mal vorkommen, aber es passiert so häufig, dass man wirklich nicht von Ausnahmen reden kann! Da fragt man sich schon: Wo bleibt eigentlich die vielbeschworene höhere Leistung? All diese Leute sind zum Teil ja sogar besser qualifiziert bzw. haben mehr Schulungen absolviert als frühere Generationen, aber sie scheinen keineswegs effektiver zu arbeiten, im Gegenteil! Und das trotz des Drucks, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, der heute sicher weit größer ist als früher.
Fazit: Man sollte den Behauptungen, das Berufsleben würde immer härter und schnelllebiger und die Leistungsanforderungen immer höher, kritisch gegenüberstehen. Nach meiner Meinung nimmt die Hektik zwar insofern zu, als schneller Leistungen oder Ergebnisse gefordert werden, diese fallen aber eben schlampiger und weniger tragfähig aus als früher. Man macht sich in Unternehmen oft nicht mehr die Mühe, die neuen Mitarbeiter richtig einzuarbeiten, verlangt aber dennoch gleiche oder höhere Leistungen. Das kann nicht funktionieren und tut es ja auch nicht! Deshalb glaube ich, dass die Tendenz wieder zu mehr Gründlichkeit und Langsamkeit geht - das gegenwärtige Postulat: Immer schneller, immer besser, führt auf Dauer nirgendwo hin. Und viele Menschen verweigern sich diesem Druck ja ohnedies auf ihre Weise - ob trödelnde Leute in der Fußgängerzone oder trödelnde Angestellte.  

4 Kommentare:

  1. Hallo,Dein Bericht ist jetzt knapp 7 Jahre jung. Wenn man beobachtet, welche unglaubliche Geschwindigkeit unser Leben aufgenommen hat, ist es kaum zu fassen. Fast jeder sucht nach einem besseren Angebot für jeden Artikel und zahlt eigentlich drauf. Man kann nur hoffen, das immer mehr Menschen bewusster Leben und mit Wertschätzung und Rücksicht einander begegnen.

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  2. Das hat Goethe schon moniert; im Alter von 80 Jahren stellte er kritisch fest:
    „Reichtum und Schnelligkeit ist das, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt;
    Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle Möglichkeiten der Communikation sind
    es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten und dadurch in der Mäßigkeit zu verharren.“

    Er spricht vom Zeitstrudel, von der Abwesenheit, von Besinnung und Langsamkeit mit seinen Worten:
    „Für das größte Unheil dieser Zeit, die nichts reifen lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag vertut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne etwas vor sich zu bringen.“

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